After the funeral

Das Begräbnis war vorbei. Lucians Herz war schwer bei dem Anblick der traurigen Gesellschaft geworden. Gekannt hatte er den jungen Mann, der begraben worden war, nicht. Doch einige andere schon. Zu einem war das ein rothaariges Mädchen, die eine ergreifende Rede gehalten hatte. Dann noch eine handvoll anderer Schüler. Der Rest hatte eine weiße Lilie reingeworfen. Danach hatte man die Möglichkeit gehabt, sich für den Wachdienst anzumelden. Sicher war sich der Engel noch nicht, schwankte, ob es wirklich so eine gute Idee war. Dabei war seine Fähigkeit recht nützlich in dem Unterfangen. Und das Beste war, er konnte sie sogar schon ein wenig einsetzen. Vielleicht ein paar Minuten.
Trotzdem würde es ihm gut tun, eine Nacht darüber zu schlafen. Übereilte Handlungen waren jetzt unangebracht. Am Ende bereute er noch, sich eingetragen zu haben und dann würde der Wachdienst nur noch zur Qual werden.
Nachdenklichen Schrittes ging er zum Wohnblock, nachdem Niamh die Beerdigung für beendet erklärt hatte. Dunkel und kühl war es bereits geworden. Doch als er zum Himmel schaute, sah er viele kleine Sterne und den hellen Mond, der die Umgebung in weißes Licht tauchte. Bei seinem Wohnblock angekommen, ging er durch den Flur zum kleinen Aufenthaltszimmer, auch Wohnzimmer genannt, und ließ sich auf die Couch fallen. Der Dunkelhaarige setzte sich so, dass seine Flügel ihn nicht störten.

Leah trottete in ihrer Wolfsgestalt vom Friedhof zurück mit leicht schlechter Laune, denn sie mochte keine Beerdigungen. Ehrlich gesagt fragte sie sich, warum sie überhaupt hingegangen war. Mit ihrer Schnauze öffnete sie die Tür zum Wohnhaus und quetschte sich durch die Tür, dann schlängelte sie sich vorsichtig durch den Gang und betrat das Wohnzimmer. Sie starrte Lucian für ein paar Sekunden mit ihren Wolfsaugen an und dann trottete sie zu ihm und legte sich mit einem schnaufen neben das Sofa.

Lucian legte seinen Kopf in den Nacken und starrte an die weiße Decke. Die Wohnblocks schienen noch nicht lange zu bestehen oder waren neu renoviert worden. Denn es fiel noch kein Putz von der Decke.
Die Wohnblocktür öffnete sich. War bestimmt einer seiner Mitbewohner und als dann ein großer Wolf hereinkam, wusste er, dass es Leah war. "Hey." sagte er kurzgebunden und fuhr sich durch seine schwarzen Haare, die nun in alle Richtungen abstanden. Ehrlich gesagt wusste er nicht so recht, was er sagen sollte. Die Stimmung war erdrückend, kaum aushaltbar. Üblich nach einer Beerdigung.

Leah schnaubte kurz als Antwort und hob ihren Kopf um Lucian kurz anzublicken. Dann stand sie wieder auf und trottete in ihr Zimme rum sich zu verwandeln und sich Shorts und ein Top anzuziehen. Barfuß kam sie wieder ins Zimmer getapert und ging hinüber zu den Schränken um sie nach etwas zu Essen abzusuchen.

Leise seufzte Lucian und streckte seine Beine aus. Ihm entging nicht, wie Leah als Wolf abzog und als angezogener Mensch wiederkam. Eine angezogene Leah war ihm lieber als eine ... nackte. Damit hatte er heute ja schon ungewollt Bekanntschaft gemacht. Er folgte ihren Bewegungen und beobachtete sie dabei, wie sie nach etwas suchte. "Hast du Hunger? Ich kann uns was machen." schlug er vor und hob leicht eine Augenbraue in die Höhe, schaute sie fragend an.

"Nein danke.", murrte sie und sah in strafend an. "Wir hatten darüber gesprochen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich." Leah fuhr fort in den Schränken zu suchen und fand schließlich ein Laib Brot welchen sie nahm und sich auch auf das Sofa schmiss, aber sie achtete darauf, dass sie nicht in Berührung mit Lucians Flügeln kam. Sie stopfte sich ein großes Stück Brot in den Mund und kaute es nachlässig.

"Wie du willst." erwiderte der Engel schulterzuckend. Ja, jeder war für sich selbst verantwortlich. Das hatte ihm Leah in den letzten Stunden überdeutlich gezeigt. Und dennoch ... Lucian war ein Engel und konnte einfach nicht anders, als zu helfen.
Ein Laib Brot? Das war doch nichts richtiges zu Essen in dem Sinne. Wenn wenigstens noch ordentlicher Aufschnitt drauf wäre. Aber so? Das konnte doch nicht schmecken. Die Werwölfin setzte sich zu ihm auf das Sofa, schmeißen passte wohl eher. Ein paar Minuten verweilte er noch so bis er sich erhob und ebenfalls nach Essbaren Ausschau hielt. Dazu ging er in die kleine Einbauküche, fand eine Tütensuppe und machte sich erstmal was ordentliches zu Essen. Nach etwa fünfzehn Minuten kam er mit zwei Tellern zurück, in welchem jeweils ein Löffel war, und stellte den einen auf den Tisch. "Du weißt doch, Leah. Ich kann einfach nicht widerstehen." Ein leichtes Grinsen huschte über seine sonst so ernsten Gesichtszüge. "Also falls du etwas ordentliches essen möchtest ..." Mit den Worten setzte er sich zu ihr, stellte den heißen Teller auf seinen Schoß ab und begann die lecker riechende und schmeckende Suppe zu essen.

Als Lucian mit den beiden Tellern zurückkam seufte Leah genervt auf. "Ich hab doch gesagt...", grummelte sie, griff aber nach dem Teller mit der Suppe. "Ich werde dir aber nichts von meinem Brot abgeben.", murmelte sie nach einer Weile stillen essens. "Ich brauche mehr essen als du. Und ich habe dich nicht gefragt ob du mir Suppe machen kannst, das heißt ich bin dir nichts schuldig."

Die Reaktion von Leah war altbekannt. Innerlich hatte er sich schon darauf vorbereitet. "Nein, das musst du nicht. Brot ist ohne Aufstrich einfach geschmacklos in meinen Augen. Deswegen kann ich auch nicht verstehen, warum du es einfach ohne alles isst." erwiderte mit Unverständnis im Blick.
Wieder schüttelte er nur lächelnd den Kopf. "Wie oft noch, Leah. Du bist mir nichts schuldig. Alles, was ich mache, mache ich aus freien Stücken, ohne etwas von dir zu verlangen." erklärte er ihr noch einmal und er würde es ihr immer wieder erklären, denn er würde ihr immer wieder etwas ordentliches zu essen machen.

Ohne ihn anzublicken verdrehte sie die augen und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund. "Das Brot ist gut. Besser als alles zusammen was ich in den letzten Wochen hatte.", sie verzog das Gesicht beim Gedanken and rohes Fleisch. "Gut.", sagte sie dann. "Aber trotzdem hör auf mir essen zu machen und ... hör einfach auf nett zu mir zu sein, okay?"

Leise seufzte er. Bei Leah lief er gegen eine steinharte Wand. Aber er würde die harte Nuss noch knacken. Dessen war sich der Engel sicher. Die nötige Geduld musste er nur aufbringen. Dann würde es sicherlich klappen. "Würde ich aufhören, nett zu sein. Dann würde ich aufhören, Ich zu sein. Und das werde ich nicht. Nicht einmal für dich, liebste Leah." meinte er mit einem leichten Lächeln und schob sich noch etwas Suppe in den Mund, die für Tütensuppe doch recht gut schmeckte.

Leah rollte mit ihren Augen. "Oh, sei ruhig.", grummelte sie. "Und ich bin nicht deine 'liebste Leah'." Mit einem murren schob sie sich den letzten Löffel Suppe in ihren Mund und stellte den Teller auf den Couchtisch, ein Stück von ihrem Brot abreißend und in den Mund stopfend. Sie blickte Lucian für einige Sekunden and und seufzte dann ein wenig frustriert. "Hör auf du zu sein.", meckerte sie dann, denn sie konnte es nicht leiden, wenn Lucian so freundlich zu ihr war. Außer ihrem Bruder war noch nie jemand so freundlich zu ihr gewesen.

Lucian grinste sie schelmisch an. Eigentlich gehörte er nicht zu der Sorte, die andere neckte. Ruhig und gelassen, geduldig und ernst war er. Ein Engel eben, der schon viele, viele Jahre hinter sich hatte.
"Das kann ich nur nicht. Das wäre so, als würde man dir verbieten, dich in einen Werwolf zu verwandeln oder so verbittert und mürrisch zu sein." erwiderte der Engel direkt und löffelte seine Suppe zu Ende aus. Wahrscheinlich hatten seine Worte sie getroffen. Auch wenn Leah es nicht zeigen würde. "Es gibt keinen Grund, schlechte Laune zu haben. Die Schule wird dir sicherlich bei deinem Unterfangen helfen. Dein Bruder wird heil daraus kommen." Sein Blick war warmherzig, aufmunternd und freundlich.

Leah warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Halt den Mund.", murmelte sie. "Du weißt nicht ob sie mir helfen werden. Und ich denke nicht, dass sie das tun, denn man kann sich nicht auf die Hilfe von anderen verlassen." Sie presste ihre Lippen aufeinander und starrte auf das brot in ihren Händen.

Natürlich hielt Lucian nicht den Mund. In dem Punkt hörte er nicht auf Leah. Mal abgesehen davon, dass er nie auf Leah hörte und auch nicht vor hatte, es zu tun. "Ich denke schon, dass sie das tun werden." erwiderte der Engel optimistisch und stellte den Teller auf den kleinen Tisch vor sich, lehnte sich dann wieder zurück und schaute Leah an. "Du bist eine Schülerin dieser Schule und ihnen ist das Wohlergehen ihrer Schüler sehr wichtig. Mal abgesehen davon, dass dein Bruder auch ein potenzieller Schüler sein konnte." sprach er seine Gedanken aus. "Wie wäre es, wenn du mal anfängst, anderen zu vertrauen. Sicher gibt es immer welche, die einen enttäuschen. Aber es gibt dann auch die anderen. Die, die man zufälligerweise Freunde nennt. Und ich glaube, dir fehlt tatsächlich Vertrauen." Ja, das klang logisch. Vielleicht war sie aus diesem Grund so verbittert. Weil sie oft enttäuscht wurde.

Leah schnaubte und sah Lucian an. "Mir fehlt das Vertrauen.", höhnte sie ein wenig. "Das Vertrauen.", sie schnaubte erneut. "Dein Problem ist, dass du Vertrauen hast, Vertrauen ist nicht gut, denn wenn man Leuten vertraut, dann endet das nie gut. Dem einzigen dem ich vertraue ist mein Bruder aber der ist eingesperrt." Fest presste sie ihre Lippen aufeinander and stopfte sich noch ein Stück Brot in den Mund was sie verbissen kaute.

Lucian lächelte leicht, blieb ruhig und war auch ruhig. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. "Wer sagt, dass ich Vertrauen habe? Vertrauen muss sich erst aufbauen. Aber man muss es auch zulassen und nicht abblocken. Das ist der Unterschied zwischen uns. Du blockst es ab, ich lasse es zu." erklärte er ihr nüchtern und verschrenkte die Arme vor der Brust. Die Wahrheit war nun mal hart. "Aber mach, was du denkst, Leah. Ich habe dir meine Meinung jetzt diesbezüglich gesagt. Was du daraus machst, ist deine Sache."

Für ein paar Minuten blieb Leah still und schob sich schließlich das letzte Stück Brot in den Mund. "Vertrauen.", schnaubte sie nochmal leise und schüttelte ihren Kopf. "Ich werde morgen zu diesem Typen gehen und fragen. Am schwarzen Brett stand, dass er morgen Fähigkeitenkontrolle macht und dann hat er sicherlich fünf Minuten Zeit oder so...", murmuelte sie and blickte Lucian an. "Kommst du mit? Wir müssen ja immer zu zweit rumlaufen."

Es würde lange dauern. Sehr lange. Leah war so misstrauisch und verbittert, dass sie sich eine Mauer gebaut hatte. Eine Mauer, die nur schwer zu durchbrechen war. Doch wer genügend Geduld aufbrachte, würde es sicherlich schaffen. "Sicher." sagte er und zuckte nur mit den Schultern, streckte dann seine Beine aus und streckte sich genüsslich. Der Tag war lang und hart gewesen. Müde war er jedoch nicht. Noch nicht. "Und, gedenkst du nach diesem langen Tag jetzt schon schlafen zu gehen?"

Wie auf Kommando gähnte Leah und zog ihre Beine an ihren Körper. "Weiß nicht. Jetzt noch nicht. Ich denke ich werde gleich nochmal nach meinem Bruder schauen oder so.", murmelte sie und drehte ihren Kopf zu Lucian. "Und du? Wirst du dich wieder irgendwo in deine Flügel einkugeln?" Sie grinste ein wenig.

"Das heißt, du verwandelst dich in einen Wolf? Wie funktioniert die Art der Kommunikation untereinander?" wollte er neugierig von ihr wissen. So lange lebte er schon auf dieser Welt. Doch mit einem Werwolf ins Gespräch gekommen, war er noch nicht.
Lucian gluckste leise. "Sicher. Aber nachher erst irgendwann." Zuerst wollte er nachdenken. Darüber, wie er am besten die Schulleiterin von Leahs Unterfangen überzeugen konnte. "Und wir Engel kugeln uns nicht in unsere Flügel ein. Wir schlafen wie ganz normale Menschen in eine Bett." belehrte er sie grinsend.

"Ist wie sprechen nur in Gedanken.", meinte sie einfach und zuckte mit ihren Achseln. "Es ist so ne Art Telefon im Kopf. Ist ganz nützlich zur Jagd und für so ein scheiß." Ihre Augenbrauen zuckten in die Höhe. "Nicht? Stören die Flügel nicht beim schlafen?"

"Ah." sagte Lucian ehrlich interessiert. Die Werwölfe waren doch eine recht interessante Spezies. Eine Spezies, worüber er noch soviel lernen wollte. Dabei kannte er ja nicht einmal die gesamte Geschichte der Engel, die sich seit der Existenz der Welt, erstreckte. Aber er hatte ja noch Zeit, soviel Zeit ...
Auf ihre Frage hin schüttelte der Dunkelhaarige nur den Kopf. "Nicht, wenn du dich auf die Seite oder den Bauch legst. Dann geht es. Mit den Jahren gewöhnt man sich an diese Liegeposition." meinte er lächelnd und streckte seine Beine wieder aus, während er die Arme hinter seine Kopf verschrenkte und Leah leicht musterte. Die Sache mit ihrem Bruder schien ihr wirklich zuzusetzen. Wem würde das nicht? Mir würde es auch so gehen, würde man meinen Bruder gefangen genommen haben.

Leah beobachtete Lucian und zog ihre brauen zusammen. "Hör auf mich so zu mustern.", murrte sie als sie diesen durchdringenden Blick auf sich spürte. "Ich mag das nicht.", sie wandte ihre Augen ab und verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust, eine abwehrende und schützende Geste.